Story of my life #35

#35

„Wir, die Menschen, verlängern die Pubertät über den biologischen Zeitraum hinaus.“

Bevor ich als mittlerweile 20jähriger die heimischen Gefilde verlassen konnte, musste ich mir zunächst noch eine Erweiterung für meine Stereoanlage kaufen. In den Jahren zuvor hatte ich mir zunächst einen CD-Player gegönnt, der über den Aux-Anschluss an meiner Hanseatic-Brüllkiste angeschlossen war und nur deshalb notwendig wurde, weil ich mir CDs kaufen musste, die nicht auf LP zu bekommen waren (Judas Priest Erstling „Rocka Rolla“ und das Überwerk „Sad Wings Of Destiny“). Nach und nach gab meine Kompaktanlage aber den Geist auf, so dass ich mir erst einen Verstärker (Pioneer A 501R) und denn noch einen Plattenspieler (Dual CS 415) und Kassettenrekorder (Pioneer CT-S 310) zulegte. Lautsprecher hatte ich von meinem Vater geerbt. Das waren weiße Regallautsprecher von Braun (Wega?), die einen Wackelkontakt hatten, den ich mit einem Gummiband beheben konnte. Für meine erste „eigene“ Bude sollten jetzt neue her. Vom letzten Ferienjob waren nach Interrail noch ein paar Mark übrig und die sollten im Pro Markt in Münster in einen Schallwandler umgesetzt werden. Hier standen auf zwei Paletten 3 Weger von Magnat (die sich schon der Thorsten geholt hatte) und 2 Weger von Arcus (TS 500) als Sonderangebot. Nach kurzem Testhören kaufte ich für 120 Mark pro Stück die Arcus, die 30 Mark billiger waren und sich für meine Ohren besser anhörten. Mit den Schwarzen Kisten, der restlichen Stereoanlage, einem alten Fernseher samt Videorekorder, etwa 40 CDs, einem Stoffliegestuhl und etwas Wäsche im Kofferraum durften mich meine Eltern dann zur Jugendburg bringen.

Zwei Monate vor mir hatte bereits ein Stufenkammerad hier mit dem Zivildienst begonnen, der ein komfortable Zimmer im ersten OG bezogen hatte. Für mich war das Turmzimmer da. Welch ein Glück. So was abgefahrenes werde ich wohl nie wieder bewohnen. Ich bekam ein rundes Zimmer mit einer Holzstütze in der Mitte, die den Boden der darüberliegenden Minischlafkammer trug, die über eine schmale steile Hexentreppe zu erreichen war. Der Durchmesser dürfte drei ein halb Meter betragen haben. Ein kleines Fenster war zum Burghof hin gelegen und neben dem Fenster war die Turmuhr angebracht. Da sich das Zimmer in der Turmspitze befand, umkreisten bei meiner Ankunft schon Dohlen und Krähen den Turm, die deutlich zu hören waren. Herrlich! Ich fühlte mich direkt wohl, auch wenn alles alt und dezent muffig war.

Etwas mühselig war es, mein Gelumps die steile Wendeltreppe hochzutragen, aber so viel war es ja nicht. Nach kurzem Rundgang und ebenso kurzem Abschied von meinen Eltern war ich dann allein mit mir, meinen Klamotten und meinem neuen Zimmer. Also erst mal alles einräumen und aufbauen, um dann zum gemeinschaftlichen Abendessen in den Burgkeller in den Speisesaal und die Küche zu gehen, wo sich in der Woche die gesamte Belegschaft und die Gäste zu den Mahlzeiten versammelten. Da waren neben mir noch 4 weitere Zivis, ein Gärtner, ein Hausmeister etwa 5 Köchinnen (diese wechselten ihren Dienst so durch, dass immer zwei oder drei anwesend waren) nebst Hauswirtschafterin, dem Buchhändler des Schlossladens und der Kaplan. Der Leiter der Jugendbildungsstätte aß meist bei seiner Familie, die in einem Haus auf dem Schlossgelände wohnte. Eine schöne Runde voller Typen, die ordentlich klönschnackte. Da ich an einem Sonntag einzog, war hier nur die Rumpfmannschaft vertreten, da am Sonntagabend keine Gäste mehr in der Burg waren.

Erste Woche, erster Dienst, Gartenarbeit! Ich hatte mir sagen lassen, dass der Gartendienst recht speziell sei, da der Gärtner ein kauziger Vogel war. Ich wusste nicht genau, was das bedeutete, war aber, als ich ihn dann traf, sofort im Bilde. Der Gärtner und ich fanden recht schnell heraus, dass wir aus unterschiedlichen Welten kamen. Er war Gärtner durch und durch, fortgeschrittenen Alters, ernst und nicht sonderlich gesprächig. Ich hatte (und habe) keine Affinität zu Pflanzen und ihrer Pflege und zuvor nur hin und wieder zuhause Rasen gemäht oder die Auffahrt gefegt. So arbeiteten wir still nebeneinander her und ich ertrug die mir häufig unsinnig erscheinenden Aufgaben mit wahrscheinlich sichtbarem Missmute, der ihm nicht verborgen geblieben sein kann. Wir arbeiteten seinen Wochenplan ab, in dem ich vertrauensvolle Aufgaben, wie Maulwurfshügel platttrampeln, Hasenzaun flicken und Striche in die Wege harken zugewiesen bekam. Er zog währenddessen mit seiner Agria, einem kleinen motorisierten Zuggeräte für einen größeren Karren, umher und machte, was ein Gärtner so machte, zum Beispiel Unmengen von Radieschen ernten, die die Küche dann an die Gäste loswerden musste.

Am Donnerstag kam dann das wöchentliche Highlight, das Rasenmähen. Die Burg ist umgeben von einem Wassergraben (Gräfte) und vorgelagert sind einige (!) Rasenflächen. Diese wurden durch den Gärtner per Aufsitz-Walzenmäher gestutzt und der Zivi durfte dann das Gemähte zusammenharken. Dass es dabei in meiner ersten Woche schüttete, interessierte ihn nicht. Donnerstag ist Donnerstag. So liefen mir gelb bejackt nach und nach die Schuhe mit Niederschlag voll und die mittlerweile recht langen Haare hingen traurig ins Gesicht. Dieses Szenario beobachteten belustigt auch die auf der Burg arbeitenden Sozialarbeiter und Bestandszivis, mit denen ich mich in Zukunft noch anfreunden sollte.

Nach dem Dienst musste ich erst mal duschen und hing bis zum Abendessen in meinem Zimmer ab. Prost Mahlzeit, was für eine erste Woche. Mir taten die Hände vom Harken weh und die Füße waren wegen des feuchten Milieus zwei schrumpelige Klumpen. Entschädigt wurde ich dann aber durch die wohlige dreiviertel Stunde Musik, die sich betörend über die neuen Boxen in meiner Kemenate ausbreitete. Ich besaß die „Wish You Were Here“ von Pink Floyd schon länger und hatte den Titelsong auf so manchem schmusigen Angrabe-Verschenkesampler untergebracht. Aber das Album ist ein Gesamtkunstwerk. Während wir mit den „Jungs“ meist die „Atom Heart Mother“ gehört hatten, die in Gänze doch etwas sperrig ist, entfaltete dieses Album jetzt, platt wie ich war, einen rauschhaften Sog. Alleine der Beginn: Ein Wrightscher Soundteppich, orgelähnlich, eine leise Melodie, dann ein paar helle Gitarrenklänge, die eine spacige aber vollkommen ruhige Stimmung aufbauen in die dann mit Wucht das Grundmotiv aus vier Tönen von David Gilmour hineingesetzt werden um dann vom anschwellenden Schlagzeug und Bass begleitet in den eigentlichen Song hinüberzugleiten. Wahnsinn, wie schön! Unerreicht! Ich war im siebten Stereohimmel und vom musikalischen Wohlklang einer guten Anlage angefixt. Dieser Song und die vier folgenden entschädigten mich nun auf Albumlänge für alle Mühen der letzten Tage und das beruhigende Gefühl am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein machte sich allmählich breit.

Pink Floyd – Shine On You Crazy Diamond Part 1